Briefgeheimnis
Daniel beobachtete nun schon seit einer halben Stunde das graue, sechsstöckige Wohnhaus auf der anderen Straßenseite. Das übermütige Geschrei der spielenden Kinder im Park hinter ihm vermischte sich mit dem Rattern der Pressluftbohrer an der Baustelle ein Stück die Straße hinunter und verstärkte das schmerzhafte Pochen in seinen Schläfen. Es hatte erneut zu nieseln begonnen, und die feuchte Kälte kroch allmählich durch seinen abgetragenen roten Anorak. Das Regenwasser der letzten Tage hatte sich in den tiefen Schlaglöchern der Straße gesammelt. Jedes Mal, wenn ein Auto vorüberfuhr, ergoss sich das schmutzigbraune Wasser über den Gehsteig. Daniels Schuhe und Hosenbeine waren schon völlig durchnässt. Auch die Schultasche zu seinen Füßen hatte ein paar Schlammspritzer abbekommen.
Er musste an seine Mutter denken, die wegen dieser Unachtsamkeit toben, ihn beschimpfen würde, ihr Gesicht zu einer wütenden Maske verzerrt, während ihre Hand die unvermeidliche Flasche umklammerte, mit der sie schon verwachsen schien. Seine Mutter. Sie würde nun in der engen, düsteren Wohnung ihre Kreise ziehen wie ein Raubtier, das in seinem Käfig gefangen war und verzweifelt nach einem Fluchtweg suchte. Er sah ihr schmales, blasses Gesicht mit den dunkelblau schimmernden Augenringen vor sich, das ungewaschene, blonde Haar, das widerspenstig nach allen Seiten abstand, ihren mageren Körper in dem ausgebeulten Jogginganzug, der sie beinahe zu verschlingen schien. Ihr flackender Blick würde die alte Pendeluhr über dem Schreibtisch hypnotisieren, als könne sie dadurch die Zeit anhalten oder beschleunigen. Er wusste, dass sie diese fieberhafte Unruhe erst abschütteln würde, wenn er wohlbehalten vor der Tür stand.
Er zog mit klammen Fingern den Ärmel seines Anoraks hoch und blickte auf die Uhr. Er musste sich beeilen, wenn er verhindern wollte, dass seine Mutter einen Anfall bekam und die Polizei verständigte. Er konnte bereits die harten Schläge spüren, die auf ihn niederprasseln würden wie ein losgetretener Steinschlag. Aber weit schmerzhafter waren die verstohlenen Blicke der Mitschüler in der Turngarderobe, die sich wie spitze Nadeln in seinen Rücken bohren würden. Er schob seinen Ärmel zurück, griff nach der Schultasche und schwang sie auf den Rücken. Er überquerte langsam die Straße, wich geschickt den Pfützen aus und stand nun mit klopfendem Herzen vor dem grauen Haus, das senkrecht in den wolkenverhangenen Himmel ragte. Seine Augen huschten suchend über die verschmierten Schilder neben der Sprechanlage, so schnell, dass er den Namen beinahe überlesen hätte. Nummer zwölf. Er wollte gerade auf den kleinen schwarzen Knopf drücken, als die Haustür aufging. Ein kleines, blondes Mädchen trat heraus und hielt ihm mit niedergeschlagenen Augen die Tür auf. Er zwängte sich hastig an ihr vorbei, ohne sich zu bedanken.
Das Treppenhaus roch muffig und feucht, von den Ecken kroch grüner Schimmel über die fleckigen Wände, und an der Decke hing eine zerbrochene Glühbirne. Er stolperte in dem trüben Licht, das durch die milchigen Scheiben der Eingangstür fiel, über das grüne Kinderfahrrad, das achtlos hingeworfen auf dem holprigen Fliesenboden lag, die Räder von getrocknetem Schlamm verkrustet und das Lenkrad verbogen. Sein Herz klopfte nun so laut, dass er sicher war, das Geräusch würde von den hohen Wänden widerhallen und das Treppenhaus mit seinem Echo erfüllen. Sein Mund war ganz ausgetrocknet, und das Schlucken fiel ihm schwer. Er machte ein paar zögernde Schritte vorwärts und entdeckte die schmale Treppe, die sich am Ende des Ganges steil nach oben wand und im Dunkeln verschwand. Schräg gegenüber befand sich der Lift, doch er war außer Betrieb, wie ein verbogenes Schild knapp mitteilte. Nummer zwölf. Das musste im dritten oder vierten Stock sein. Er griff vorsichtig nach dem abgesplitterten Holzgeländer, das aussah, als würde es jeden Moment unter dem schwachen Druck seiner Hand zusammenbrechen, und begann mit dem Aufstieg.
Hätte er letzte Woche nicht zufällig den Brief entdeckt, wäre er niemals dahinter gekommen, dass sie ihn angelogen hatte. Der Brief war zerknittert, die Ecken umgebogen, und die Schrift auf dem Umschlag verwischt und kaum noch leserlich. Er lag unter all den unbezahlten Rechnungen, die seine Mutter in einer alten Schuhschachtel aufbewahrte, ganz unauffällig, gut verborgen vor neugierigen Augen wie den seinen. Er spürte sofort, dass er ein Geheimnis barg. Er öffnete den Brief mit zitternden Fingern, zog den weißen Bogen heraus und faltete ihn behutsam auseinander. In diesem Moment hatte sich sein schlechtes Gewissen gemeldet und ihn an die warnenden Worte seiner Mutter erinnert. Er dürfe niemals die Briefe anderer lesen, es wären schließlich Dokumente, deren Inhalt zutiefst persönlich sei. Er würde auf diese Weise Dinge erfahren, über die er besser nicht Bescheid wusste, die ihm vielleicht sogar Kummer bereiteten. Daniel zögerte zunächst ein wenig, doch dann fiel sein Blick auf den Namen und die Adresse am Briefkopf, und er wusste, dass seine hoffnungslose Sehnsucht, die ihn so viele Jahre begleitet hatte, nun ein Ende finden würde.
Er hatte den Brief mit auf sein Zimmer genommen, die Tür zugesperrt und zu lesen begonnen. Sein Vater wollte ihn regelmäßig sehen, verstand nicht, weshalb sie es nicht zuließ. Flehte sie an, doch Vernunft anzunehmen, schließlich wäre sie nicht in der Verfassung, sich um ihn zu kümmern. Drohte schließlich mit dem Gericht. Daniel starrte auf die Unterschrift. Er war also gar nicht weggezogen. „Unbekannt verzogen, so hatte seine Mutter es genannt. Er blickte rasch auf das Datum. Sein Vater hatte den Brief vor etwas mehr als vier Jahren abgeschickt. Vielleicht wohnte er immer noch unter dieser Adresse, nicht einmal fünfzehn Minuten von ihnen entfernt. Als er den Brief zurück in den Umschlag stecken wollte, fiel ein kleines Foto heraus. Es zeigte einen gutaussehenden, blonden Mann mit Schnurrbart, der breit in die Kamera lächelte. Es war eine ältere Aufnahme, wie Daniel nach einem kurzen Blick auf die Rückseite feststellte. Sie musste aus der Zeit stammen, als seine Eltern sich getrennt hatten. Er hatte damals gerade mit dem Kindergarten begonnen. Daniel hielt Brief und Foto einige Sekunden lang unschlüssig in der Hand und schob sie dann in das schmale Seitenfach seiner Schultasche.
Daniel erklomm schnaufend einen weiteren Treppenabsatz und sah, dass er den dritten Stock erreicht hatte. Irgendwo im Haus schrie ein Baby, und laute Popmusik dröhnte über seinem Kopf. Er überprüfte gewissenhaft die schiefen Nummerntafeln auf den braunen Holztüren und fand sie schließlich auch, die Nummer zwölf. Ein scharfer, unangenehmer Geruch hing in der abgestandenen Luft, und er musste niesen. Neben der Tür stand ein leerer Kinderwagen, das Dach zurückgeklappt, die blassrosa Decke schlampig zusammengelegt und das Kopfkissen mit Erbrochenem durchtränkt. Ihm wurde übel, also wandte er sich rasch ab. Starrte stattdessen wie gebannt auf das Namensschild an der Tür. Er konnte noch immer nicht glauben, dass er seinen Vater gefunden hatte. Seinen Vater, der sich Sorgen machte und sogar vor Gericht um ihn kämpfen wollte. Er hob die Hand und ließ seinen Zeigefinger einige Sekunden lang unentschlossen über dem Klingelknopf schweben. Dieser Augenblick würde entscheidend sein für sein weiteres Leben, und auf einmal hatte er Angst. Und wenn er gar nichts mehr mit dir zu tun haben will? Er tastete hilfesuchend nach dem Brief in seiner Jackentasche, holte tief Luft und drückte entschlossen auf den weißen Knopf.
Sie öffnete die Tür so schnell, als hätte sie auf ihn gewartet. Er trat erschrocken einen Schritt zurück und wäre beinahe über seine eigenen Beine gestolpert. Die Frau war jung, viel jünger als seine Mutter. Das hellblonde Haar war schlampig zu einem Zopf geflochten, der über ihre rechte Schulter hing. Sein Ende verschwand im kauenden Mund des dicken Babys, das sie im Arm hielt. Ihre hellen Augen musterten ihn misstrauisch von oben bis unten.
„Was willst du?“, fragte sie unfreundlich.
Er schluckte. Er machte den Mund auf, brachte aber außer einem unverständlichen Gekrächze keinen Ton heraus.
„Hast du die Sprache verloren?“, herrschte sie ihn an und riss das Zopfende aus dem Mund des Babys. Sofort erhob sich anklagendes Geschrei, und die Frau schlug dem Kind fest auf das Hinterteil. „Wenn du Geld möchtest, bist du hier an der falschen Adresse. Wir mögen keine Bettler.“ Sie musste schreien, um das wütende Gebrüll des Säuglings zu übertreffen.
„Ich wollte nur fragen, ob Herr Burian zu Hause ist.“
Es hörte sich seltsam an, dieses Herr Burian, aber er konnte doch unmöglich mein Vater sagen. Hinter der Frau tauchte ein blondes Mädchen mit schokoladeverschmiertem Gesicht auf und beäugte ihn neugierig.
„Hier, Denise“, schnauzte die Frau die Kleine an und drückte ihr das plärrende Bündel Mensch in die Arme. “Verschwindet mal kurz in euer Zimmer.“
Die Frau trat ins Treppenhaus hinaus und zog die Tür hinter sich zu. „Was willst du von meinem Mann?“ Ihr Atem roch nach Zigaretten, und auf dem weißen Pullover klebten eingetrocknete Essensreste.
Er machte einen weiteren Schritt zurück. „Nichts, ich meine, ich … Könnten Sie mir bitte sagen, wann er nach Hause kommt?“ Er begann zu schwitzen.
„Wer bist du eigentlich?“, fuhr sie ihn erneut unwirsch an. „Und woher kennst du meinen Mann?“
Tränen schossen ihm in die Augen, doch er versuchte vergeblich, sie zurückzudrängen. Was sollte er darauf antworten? Ich bin der Sohn ihres Mannes. Ich möchte ihn nach langer Zeit endlich wiedersehen. Meine Mutter hat mir erzählt, er wäre in eine andere Stadt gezogen, wolle nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich möchte, dass wir uns kennenlernen, Freunde werden, Zeit miteinander verbringen …
Die Tränen rannen nun in kleinen Bächen über sein Gesicht, aber er machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Der Kopf der Frau war nur noch ein heller, verschwommener Fleck. Sie sagte etwas, doch es verlor sich in seinem lauten Schluchzen. Er drehte sich blitzschnell um und polterte die steile Treppe hinunter. Riss die Haustür auf, stürmte über die Straße und trat dabei achtlos in die schlammigen Pfützen. Er spürte sofort die kalte Nässe in seinen Schuhen, doch es kümmerte ihn nicht. Ein Auto hupte mehrmals, Bremsen kreischten, und ein Mann schrie: „Achtung!“. Aber da war er auch schon auf der anderen Straßenseite. Er rannte in den Park, riss die Schultasche von den Schultern, warf sich ins nasse Gras und vergrub seinen Kopf in den Armen. Der feine Nieselregen war inzwischen in heftigen Regen übergegangen und durchnässte ihn im Nu. Die Pressluftbohrer an der Bauerstelle waren verstummt, die spielenden Kinder wie vom Erdboden verschluckt. Eine tiefe Stille legte sich über den Park, nur das harte Aufklatschen der schweren Regentropfen auf den Untergrund war zu hören. Daniel roch den herben Geruch der aufgeweichten Erde unter sich, sog ihn tief in seine Lungen und wünschte sich, nie mehr aufstehen zu müssen.
Er wusste nicht, wie lange er so dagelegen hatte, sein Kopf so leer wie die Weinflaschen seiner Mutter unter dem Spülbecken in der Küche, als jemand ganz zart seinen Arm berührte. Er hob widerwillig den Kopf. Vor ihm hockte ein Mädchen, fast nicht zu erkennen in ihrem gelben Regenmantel mit der riesigen Kapuze, die ihr tief ins Gesicht hing. Nur die sommersprossige Stupsnase und der kleine, blassrosa Mund waren zu sehen.
„Bist du traurig?“, fragte sie neugierig und schob die Kapuze ein wenig zurück. Und da erkannte er sie wieder, das kleine, blondgelockte Mädchen, das ihm die Tür aufgehalten hatte.
Er schüttelte leicht den Kopf. Er hatte nicht die geringste Lust zu reden.
„Wieso liegst du hier im nassen Gras?“ Sie sah ihn forschend aus ihren blauen Augen an. „Du wirst krank werden.“
Er zuckte gleichgültig die Schultern. „Ist mir doch egal“.
Er setze sich langsam auf und sah an seinen durchweichten Kleidern hinab. Er würde ganz gewiss krank werden. Vielleicht würde er sogar sterben. Er musterte das Mädchen verstohlen. Wie sollte er ihr erklären, was es hieß, ohne Vater aufzuwachsen? Ständig all die unbeantworteten Fragen mit sich herumzuschleppen, dieses ewige Warum, diese mühsame Suche nach einer Antwort? Plötzlich schoss die Eifersucht auf das Mädchen wie eine Stichflamme in ihm hoch.
„Ich heiße Hannah. Und du?“ Sie streckte ihm eine zarte, schmutzige Hand entgegen. Er ignorierte sie und wollte sich gerade abwenden, als sein Blick auf ihren Unterarm fiel, der durch den hinauf gerutschten Ärmel entblößt wurde. Er betrachtete voller Entsetzen die in allen Farben schillernden Blutergüsse, die in abstrakten Mustern ihren Arm überzogen.
„Woher hast du die?“ Er schrie beinahe, und Hannah zerrte hastig an ihrem Ärmel.
„Ich bin gestern hingefallen.“ Sie deutete mit dem Kopf zum Spielplatz hinüber. Dann senkte sie den Blick, und er wusste, dass sie log. Die Eifersucht, die ihn eben noch so heftig gepackt hatte, verflog auf der Stelle, wich einer erschöpften Leere. Er dachte an seine Schulkameraden, die morgen hinter vorgehaltener Hand tuscheln und mit dieser abstoßenden Mischung aus Bestürzung und Faszination auf seinen Rücken starren würden.
Daniel blinzelte durch den Regen zum Haus hinüber, aus dem er so verzweifelt geflohen war. Morgen würde er wieder kommen, sich hier im Park auf eine Bank setzen und das Haus im Auge behalten. Wenn sein Vater von der Arbeit heimkehrte, würde er zu ihm gehen und mit ihm reden. Alleine. Er würde ihm seinen Rücken zeigen, die Beulen am Kopf, und sein Vater würde verstehen und ihn aus ihren Klauen befreien. Endlich. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie sein Vater ihn beschützend umarmte.
Hannah stand auf, strich den Regenmantel glatt und fixierte einen Punkt in der Ferne. Daniel erhob sich ebenfalls. Er fuhr in seine Jackentasche und kramte das Foto und den zerknitterten Brief hervor. Sie waren beide unversehrt, Gott sei Dank.
Neben ihm zog Hannah scharf den Atem ein, und er hob überrascht den Kopf. Sie stand mit bleichem Gesicht im Regen, die kleinen, schmutzigen Hände zu Fäusten geballt. Er folgte ihrem Blick und bemerkte einen großen Mann im schwarzen Mantel, der auf der anderen Straßenseite unsicher den Gehsteig entlangwankte. Daniel spürte, wie sich sein Magen zusammenzog und sein Blut in die Beine sank. Der Mann war älter als auf dem Foto und hatte an Gewicht zugelegt, doch seine Haare waren noch immer blond, und auch der Schnurrbart hatte all die Jahre überlebt.
„Da kommt mein Vater“, flüsterte Hannah. Einen Moment lang glaubte Daniel, sie wolle sich hinter seinem Rücken verstecken. Doch da hatte der Mann sie auch schon entdeckt und schrie wütend ihren Namen. Hannah ließ Daniel im Regen stehen, stolperte über die Straße, platschte durch die kaffeebraunen Pfützen und blieb völlig verschmutzt vor ihrem Vater stehen.
„Du ungezogene Göre“, tobte Daniels Vater. „Schau, wie du aussiehst!“ Er packte Hannah grob am Arm, schlug ihr ins Gesicht und stieß sie ins Haus. Bevor die Tür ins Schloss fiel, drang ihr hilfloses Weinen auf die verlassene Straße hinaus.
Daniel stand regungslos da, während der Regen mit unverminderter Stärke auf ihn niederprasselte, und seine Schuhe allmählich in der matschigen Erde einsanken. Schließlich stakste er auf unsicheren Beinen zur Straße hinüber, während seine Augen langsam die Hausfassade hinauf kletterten, bis sie den dritten Stock erreichten. In diesem Moment erschien die blonde Frau an einem der offenen Fenster. Sie bemerkte Daniel am Straßenrand und schlug mit lautem Knall die Fensterflügel zu, bevor sie energisch die dunklen Vorhänge zuzog. Daniel zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. Der Brief und das Foto glitten aus seinen zitternden Händen und segelten sachte zu Boden. Er wollte gerade nach ihnen greifen und sie vor der gefährlichen Nässe in Sicherheit bringen, als ein heftiger Windstoß sie packte und verspielt die Straße hinunter wirbelte, bis sie in einer Pfütze landeten und in dem braunen Wasser hilflos ertranken.